27.07.2001 - Geschuftet ohne Lohn: Wie die Stadt Neuss ehemaligen Zwangsarbeitern hilft

Ein vergilbtes Foto, ein ungelenk geschriebener Brief mit einer Frage, die eine Zeit ...

...berührt, die schon lange zurück liegt. „Können Sie mir eine Bestätigung schicken, dass ich einmal bei ihnen als Zwangsarbeiter gelebt habe?“

Eine Frage, die so oder ähnlich in den letzten Monaten vieltausendfach an Stadtverwaltungen oder andere Behörden gerichtet wurde.

Insgesamt bis zu 10 Millionen Frauen und Männer aus 20 Nationen waren seit 1939 zum Arbeitseinsatz nach Deutschland geholt worden. Zunächst, wie der Historiker Dr. Norbert Fasse schreibt, unter dem Anschein der Freiwilligkeit, ab 1940 zunehmend in Form repressiver Deportation.  Gearbeitet haben sie in der Landwirtschaft, in der rüstungswichtigen Metallindustrie, im Bergbau, in der Bauwirtschaft, im Verkehrswesen und in der Chemie-Industrie. Als Lohn erhielten sie, wenn überhaupt, oft nur einen Bruchteil der üblichen Bezahlung.

Durch ein Bundesgesetz wurde am  2. August 2000 zur Wiedergutmachung der Zwangsarbeit  die  Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet. Dieser Stiftung stehen  rund 10 Milliarden Mark als Kapital zur Verfügung, die an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgezahlt werden sollen.

Diese benötigen jedoch für die Erlangung der Entschädigung  Nachweise und Belege über den Zeitraum und die Firma, bei der die Zwangsarbeit geleistet wurde.  Hier war und ist es Aufgabe der Stadt, diesen Menschen Nachweise über ihre damalige Zwangsarbeit zu verschaffen.

Nachdem bis 1998 nur vereinzelte Anfragen in Neuss eingingen, vergrößerte sich die Zahl der Anfragen seit 1999 zusehends. Nun nahmen die Anfragen Bezug auf die Zeit der Zwangsarbeit. Der Höhepunkt lag im Jahr 2000 mit  rund 120 Anfragen. Im Gegensatz zu früheren Anfragen, die fast ausschließlich  als Nachweis über Tätigkeiten und Beitragszahlungen in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Erlangung von Rentenzahlungen benötigt wurden, sind die heutigen Anfragen  auf den Zeitraum 1940/41 bis 5/1945 beschränkt. Seit 2001 ist die Zahl der Anfragen wieder rückläufig, da die Frist  zum Antrag auf Entschädigung bei der Stiftung  abgelaufen ist.

Zum Kreis der Berechtigten gehören Personen, die zwangsweise und unter haftähnlichen Bedingungen in Neuss gearbeitet haben und bisher dafür von anderen Stellen  keine Entschädigungen erhalten haben. Die Anträge werden über die Partnerorganisation der jeweiligen Länder abgewickelt.
Die Anfragen werden in der Regel von den ehemaligen Zwangsarbeitern selbst, deren Kindern oder Enkeln oder Bevollmächtigten wie z.B. dem Migrant Service Publication (Australien) gestellt. Die Anfragen gehen entweder direkt oder über eine andere Stelle, z.B.  einen Rententräger oder über den Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes bei der Stadt Neuss ein.
Alle Anfragen werden bei der Stadt Neuss zentral  von der Abteilung Renten- und Wohnungsangelegenheiten im Bürgeramt bearbeitet.  Zur weiteren Prüfung  schaltet das Bürgeramt andere Stellen ein, wie zum Beispiel das Stadtarchiv oder die  AOK Neuss.

So wird im Stadtarchiv unter anderem der alte Einwohnermeldebestand  bewahrt, dem eventuelle Meldedaten entnommen werden können. Außerdem liegen in den Archiven von Stadt und Kreis  - häufig allerdings nur unvollständig und vereinzelt - Personallisten von  Firmen, die damals im Gebiet der Stadt Neuss ansässig waren. Aus diesen Personallisten lassen sich Daten herleiten, bei welcher Firma der Zwangsarbeiter beschäftigt war. Bei einem positiven Ergebnis im Stadtarchiv geht eine Bescheinigung mit Dienstsiegel an das Bürgeramt zurück, das parallel eventuelle Versicherungen angeschrieben hat.

Häufig erhält das Archiv allerdings auch Anfragen anderer Stadtarchive, kirchlicher Archive oder sonstiger Einrichtungen zu einzelnen Personen, Lagern, Firmennamen. Der Umfang der Recherchearbeit, so die stellvertretende Leiterin des Neusser Stadtarchivs, Claudia Chehab, ist beträchtlich. Alle Informationen über ehemalige Zwangsarbeiter/innen in Neuss, auch solche von anderen Archiven, städtischen Dienststellen oder Benutzern, werden einer Datenbank zugeführt, die einerseits die Bearbeitung individueller Anfragen erleichtet, andererseits für die vom Rat beschlossene wissenschaftliche Bearbeitung des Themas Zwangsarbeit ausgewertet werden wird.

Wenn die Arbeit auf einem landwirtschaftlichen Betrieb geleistet wurde und der Name ist noch bekannt, werden die Landwirte, wenn sie noch leben, oder deren Kinder gebeten, eine Zeugenerklärung abzugeben.

Das Bürgeramt übersendet dem Antragsteller schließlich eine Bescheinigung oder teilt das Ergebnis der Ermittlungen mit.

Die Recherche, die im Bürgeramt geleistet wird, ist oft schwierig und langwierig. Sie erfordert alles andere als stures Abarbeiten. Oft ist detektivisches Gespür notwendig, um zu einem Ergebnis zu kommen. Und ein wenig Glück, so Corinna Kielczynski, die im Bürgeramt mit dieser speziellen Aufgabe betraut ist, gehört auch dazu. Auf dem vergilbten Foto etwa befand sich zum Bespiel außer dem Gesicht des jungen Zwangsarbeiters im Hintergrund das Gebäude der Firma, in der er arbeiten musste. Gemeinsam mit Kollegen im Stadtarchiv konnte die Firma identifiziert werden, und eine spezielle Anfrage bei der AOK brachte schließlich ein positives Ergebnis.
*